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Getriggerte Romanfiguren: Der Umgang mit biografischen wunden Punkten - Juni 9, 2023 by Susanne Gavénis

Seit einigen Jahren begegnet man ihnen überall in Büchern, Fernsehserien und Filmen – die Warnungen vor möglichen gefährlichen Inhalten, die bei entsprechend biografisch vorbelasteten Lesern oder Zuschauern einen ungewollten psychischen und emotionalen Rückfall in frühere traumatische Erlebnisse hervorrufen könnten. So weisen beispielsweise Netflix und andere Streamingdienste vorsorglich vor jeder Folge einer Serie darauf hin, dass diese Folge Schimpfworte, Sexualität, Gewalt und ähnliche Dinge enthält, die als Auslösereize für sogenannte Flashbacks fungieren könnten – für das nicht willentlich kontrollierbare Überschwemmen mit Gedanken, Gefühlen und Erinnerungsbildern, die den entsprechenden Menschen augenblicklich in eine als traumatisch erlebte Vergangenheit zurückkatapultieren.

 

Über den Sinn und den Nutzen solcher Triggerwarnungen wird – ebenfalls bereits seit Jahren – in der psychologischen Fachwelt hitzig diskutiert. Während sie die einen als eine willkommene Präventivmaßnahme begrüßen, die im Zweifelsfall großen Schaden von den Betroffenen abzuwenden vermag, kritisieren die anderen die Schwächung der Selbstkontrolle und Eigenverantwortung, die mit einem permanenten vorsorglichen Ausweichen vermeintlich schädlicher Inhalte für traumatisierte Menschen einhergeht. Dass zuweilen die Angst vor möglichen traumatischen Triggern bei den Lesern und Zuschauern ebenso wie bei den Filmproduzenten und Betreibern von Streaming-Plattformen ein wenig über das Ziel hinausschießt, ist vermutlich nicht von der Hand zu weisen, wenn etwa der Disney-Zeichentrickfilm „Arielle, die Meerjungfrau“ laut eines amerikanischen Internetforums 20 Gründe liefert, warum man sich diesen Film besser nicht ansehen sollte – darunter die Misshandlung und der Tod von Tieren, psychische Manipulation, häusliche Gewalt, Kindesmisshandlung, jemand wird gefesselt, an den Zähnen verletzt, kriegt keine Luft, wird gekidnappt und gefoltert, das Spielzeug eines Kindes wird zerstört, es gibt eine Duschszene, Blitzlichter und behindertenfeindliche Aussagen, jemand ertrinkt beinahe und jemand übergibt sich (Psychologie heute, Juni 2023). Das klingt auf jeden Fall übel.

 

Nun haben natürlich nicht nur die Adressaten von Romanen und Filmen mit den Auswirkungen einer möglicherweise schwierigen Biografie zu kämpfen, sondern häufig auch die Figuren, die in diesen Romanen und Filmen auftreten. Tatsächlich sind solche schmerzhaften biografischen Erfahrungen der Figuren sehr oft das Salz in der Geschichtensuppe, das darüber entscheidet, ob uns eine Geschichte langweilt oder uns das Schicksal ihrer Protagonisten vor emotionaler Spannung auf den Nägeln kauen lässt. Eine Figur, die eine in jeder Hinsicht glückliche Kindheit hatte, niemals an Problemen gescheitert ist oder schmerzliche Erfahrungen machen musste, die rundum zufrieden mit ihrem Leben ist – das ist in den meisten Fällen auch eine Figur, von der sich die Leser oder Zuschauer bereits nach kurzer Zeit angeödet abwenden (sozusagen das Gustav Gans-Syndrom. Wer hat schon Lust, eine Figur dabei zu beobachten, wie sie immer Glück hat und sich in schwierigen Situationen nur mühsam ein gelangweiltes Gähnen verkneifen kann, weil sie bereits damit rechnet, dass ihr Fortuna schon rechtzeitig eine rettende Hand reichen wird? Dem armen, vom Pech verfolgten Donald Duck hingegen mag man viel lieber die Daumen drücken).

 

Dabei ist es gar nicht nötig, seinen Romanfiguren gleich einen tonnenschweren Rucksack mit biografischen Altlasten auf den Rücken zu schnallen, unter dem diese mehr schlecht als recht durch die Geschichten taumeln und es nur mühsam schaffen, überhaupt ihren Alltag zu bewältigen. Eine extrem traumatisierende Vergangenheit einer Figur zwingt den Autor, die Folgen dieser Traumatisierung auf eine glaubwürdige Weise dauerhaft im Denken, Fühlen und Handeln dieser Figur zu verankern und für den Leser sichtbar zu machen – was je nach Art der Geschichte, die er erzählen will, schwierig oder sogar unmöglich ist (auch wenn die psychisch und emotional gebeutelten Kommissare im Vergleich zu vor 30 Jahren heutzutage fast zum Standardrepertoire der Krimiliteratur gehören, gibt es doch einen Punkt, ab dem ein Autor des Schlechten zu viel tut und die Figur unter dem Gewicht ihrer Alkoholsucht, unbearbeiteten Trauer über den Verlust ihres zweijährigen Sohnes, der beim Spielen aus dem Fenster im zehnten Stock gefallen ist, der Trennung von ihrem Ehepartner, der ihr dafür die Schuld gibt, jüngst diagnostiziertem Lungenkrebs infolge ihres exzessiven Kettenrauchens und ähnlicher Schicksalsschläge schlicht nicht mehr auf eine sinnvolle Weise handlungsfähig ist bzw. sein müsste, wenn der Autor diese Figur psychologisch glaubwürdig beschreiben wollte.).

 

Hierbei ist es von zentraler Bedeutung, als Autor immer im Hinterkopf zu behalten, dass jede emotional belastende Erfahrung aus der Biografie einer Figur einen Bodensatz in ihrer Psyche bildet, der durch entsprechende Reize getriggert werden kann, d.h. zu dieser Erfahrung entsprechenden Gedanken und Gefühlen führt, die das Verhalten dieser Figur im Folgenden beeinflussen. Das muss nicht zwangsläufig mit massiven Flashbacks und einem zeitweiligen psychischen und emotionalen Zusammenbruch einhergehen, wie es bei schweren biografischen Traumata geschehen kann. Aber auch weniger dramatische Erfahrungen, als es etwa sexueller Missbrauch in der Kindheit oder extreme emotionale Vernachlässigung sind, gehen nicht spurlos an einem Menschen vorbei, ebenso wenig wie an einer Romanfigur. Sie hinterlassen Spuren in seiner Seele, schlagen Wunden, die auch nach Jahrzehnten noch spürbar sein können und in entsprechenden Situationen wieder zu schmerzen beginnen.

 

War der jüngere Bruder stets das Nesthäkchen und der Sonnenschein der Familie, der alle mit seinem Lächeln verzaubert hat, während für einen selbst nur harte Worte und Ermahnungen der Eltern übrigblieben? War der Vater zwar liebevoll, aber unbarmherzig in seinen Leistungserwartungen und gab von seiner Liebe nur, wenn der Sohn oder die Tochter eine Eins aus der Schule mit nach Hause brachte? Wurden die Erfolge des Kindes von den Eltern als selbstverständlich vorausgesetzt und kein Wort darüber verloren, während es für jedes kleine Versagen erbarmungslos an den Pranger gestellt wurde? Solche schmerzhaften biografischen Erfahrungen verschwinden nicht einfach, wenn das Kind älter wird und zum Erwachsenen heranreift, sondern bleiben wunde Punkte in seiner Psyche, an denen es angreifbar und verletzlich ist – und die es deshalb oft mit aller Macht zu schützen versucht.

 

Diese Schutzbemühungen bzw. die Existenz von Abwehrmechanismen zur Verteidigung gegen (erneute) Verletzungen sind – neben dem Triggern von biografischen Erfahrungen durch bestimmte Auslösereize einer Situation, in der sich eine Figur gerade befindet – ein zweites wichtiges Element, wenn es darum geht, eine Romanfigur psychologisch glaubwürdig darzustellen. Denn oft sind es gar nicht so sehr die biografischen Erfahrungen der Vergangenheit, die einer Figur zu einem bestimmten Zeitpunkt der Romanhandlung Probleme bereiten, sondern ihr Umgang damit. Der Begriff der Neurose – der heutzutage veraltet ist und in der Psychologie in dieser Form nicht mehr verwendet wird – macht dies sehr deutlich klar (weshalb wir als Romanautoren unbedingt einmal einen Blick darauf werfen sollten).

 

Eine Neurose können wir dabei wie folgt beschreiben: 1. Ein Kind macht eine schmerzhafte Erfahrung (z.B. erlebt es einen heftigen, vielleicht sogar mit körperlicher Gewalt verbundenen Streit zwischen seiner Mutter und seinem Vater). 2. Dieses Erlebnis ist keine einmalige Erfahrung, sondern wiederholt sich im Laufe der Zeit. 3. Die Erfahrung erzeugt im Kind Gefühle der Hilflosigkeit und des Kontrollverlusts. 4. Weil kein Mensch die Existenz solcher Gefühle auf Dauer ertragen kann, versucht das Kind, irgendwie damit umzugehen und die Situation für sich erträglicher zu machen (z.B. findet es für sich die Strategie, sich bei jedem Streit der Eltern in sich zurückzuziehen und gewissermaßen unsichtbar zu werden, weil es die Fantasie hat, auf diese Weise die Auseinandersetzung der Eltern beenden zu können). 5. Bis zu diesem Punkt befinden wir uns vollständig auf der Ebene der schmerzhaften biografischen Erfahrungen, die den obenerwähnten psychischen Bodensatz beim Erwachsenen bilden, der durch entsprechende situative Auslösereize getriggert und dadurch emotional reaktiviert werden kann.

 

Nun wächst das Kind zum Erwachsenen heran. Die Erfahrungen mit seinen Eltern und die damit verbundenen Gefühle von Hilflosigkeit und Kontrollverlust bleiben „wunde Punkte“, die es all die Jahre mit sich herumträgt. Vielleicht hat es bereits seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern und schon lange nicht mehr bewusst an die ganzen hässlichen Auseinandersetzungen zwischen ihnen gedacht, die es damals so sehr geängstigt haben. Dann aber 6. lernt es einen anderen Menschen kennen, verliebt sich in ihn und heiratet. Das Glück scheint vollkommen – bis es die erste Meinungsverschiedenheit gibt. 7. Vielleicht ist es nur ein kleiner Streit, vielleicht ist der Ehepartner lediglich ein wenig genervt, als er abends von der Arbeit nach Hause kommt und feststellt, dass die Wohnung noch genauso unaufgeräumt ist wie am Morgen, obwohl der Protagonist unseres kleinen Beispiels den ganzen Tag Urlaub hatte und, statt einmal den Putzlappen in die Hand zu nehmen, lieber zehn Stunden in seinem Fernsehsessel vor seiner Videospielkonsole verbracht hat. Dennoch spürt er, wie er unter der Kritik seines Partners innerlich erstarrt. Ohne in der Lage zu sein, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen, steht er schweigend auf und zieht sich für die nächsten zwei Stunden in seinen Hobbykeller zurück, bis sich, wie er hofft, die Wogen wieder geglättet haben. Als er – noch immer angespannt, aber auch hoffnungsvoll – wieder aus dem Keller hervorkommt, muss er jedoch zu seinem Erschrecken feststellen, dass sein Ehepartner nun noch viel zorniger auf ihn ist, als er es zuvor war. Dies führt 8. augenblicklich dazu, dass er innerlich noch mehr erstarrt. Er spürt, wie sein Herz anfängt zu rasen und sich sein Hals vor naher Panik zusammenschnürt. Er lässt die wütende Kritik seines Partners über sein „unverschämtes Verhalten“ nahezu wortlos über sich ergehen und verbringt in den nächsten Tagen immer mehr Zeit in seinem Hobbykeller, um seinem Partner Gelegenheit zu geben, sich wieder abzuregen – was zu seinem zunehmenden Entsetzen allerdings nicht passiert.

 

An diesem Punkt unseres kleinen Beispiels hat die Flucht unseres Protagonisten in den Keller alle Anzeichen eines neurotischen Symptoms angenommen. Was ist passiert und wie konnte es dazu kommen? Wenn wir genauer hinschauen, erkennen wir, dass es nicht die biografischen Erfahrungen selbst sind, die unserer Figur als Erwachsenem plötzlich derartige Probleme bereiten, sondern ihr Versuch, diese Erfahrungen zu bewältigen. Genau die Lösungsstrategie, die ihr als Kind geholfen hat, die ständigen Auseinandersetzungen zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter ertragen zu können – das „Unsichtbarwerden“ – ist es nun, die verhindert, dass der eigentlich harmlose Konflikt zwischen ihr und ihrem Ehepartner schnell und unkompliziert aus der Welt geschafft werden kann. Und nicht nur das. In ihrer zunehmenden Furcht vor dem Zorn ihres Partners engen sich die Handlungsmöglichkeiten unserer Figur immer mehr ein, und in der verzweifelten Hoffnung, dass „Mehr desselben“ irgendwann die Rettung bringen muss, verschließt sie sich noch weiter und verbringt noch mehr Zeit im Keller, statt zu versuchen, den Konflikt mit ihrem Partner auf eine konstruktive Weise zu lösen.

 

An diesem Beispiel sehen wir, dass das Triggern von biografisch belastenden Erfahrungen durch bestimmte Auslösereize einer Situation in der Gegenwart eines Menschen bzw. einer Figur oft nur die eine Seite der Münze ist; das gleichzeitige Triggern eines damit verbundenen Bewältigungs- oder Abwehrverhaltens ist die andere. Gerade wenn eine Figur durch eine solche getriggerte Erfahrung nicht durch einen massiven Erinnerungs-Flashback handlungsunfähig werden, sondern lediglich in ihren Gedanken und Gefühlen zeitweilig davon beeinflusst werden soll, ist es wichtig, das mit der früheren biografischen Erfahrung verknüpfte Verhalten bei der Darstellung dieser Figur nicht außer Acht zu lassen. Hat sie gelernt, als Kind auf eine bestimmte Art mit Konflikten umzugehen (auch wenn dieser Umgang, objektiv gesehen, gar nicht zum Erfolg führen konnte und an der damaligen konflikthaften Situation nicht das Geringste geändert hat), wird sie dies auch in der Handlungsgegenwart einer Geschichte tun. Eine Figur, die stets die Fäuste geballt und ihre Frustration und Hilflosigkeit an Schwächeren ausgelassen hat, wenn sie als Kind Zeuge eines Streits zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter wurde, wird diese Abwehr- und Kompensationsstrategie auch als Erwachsener einsetzen, wenn sie in eine Situation gerät, die dieselben Gefühle wie damals in ihr wachruft. Und jemand, der als Kind bei einem Streit zwischen Vater und Mutter stets den Clown gespielt hat, um ihre Aufmerksamkeit von dem Streit weg und auf sich selbst zu lenken, wird in einer konflikthaften Situation, mit der er als Erwachsener konfrontiert wird, mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ebenso verzweifelt zu plappern beginnen, wie er es vielleicht 30 oder 40 Jahre zuvor getan hat.

 

Ein solches getriggertes Verhalten läuft in der Regel vollkommen automatisch und reflexhaft ab, und eine Figur, deren seelischer wunder Punkt durch die Umstände einer Situation oder das Handeln einer anderen Figur aktiviert wurde, muss sich nicht bewusst dafür entscheiden, eine bestimmte Abwehrstrategie abzurufen, denn das entsprechende Handlungsmuster und die Bereitschaft dazu sind durch viele ähnliche bzw. identische Erfahrungen im Verlauf ihrer Biografie in ihrer Psyche gebildet und immer wieder aufs Neue gefestigt worden. Die Frage für einen Autor ist, welchen Stellenwert er dieser Tatsache im Rahmen seiner Geschichte einräumen will und für welche Figuren dieser Geschichte das Triggern von biografischen wunden Punkten relevant sein soll. Ist es eine Nebenfigur ohne eigene Perspektive innerhalb der Szenen, deren Rolle im Roman von eher untergeordneter Bedeutung ist, oder betrifft es den Haupthandlungsträger und Protagonisten, der sich aufgrund einer vom Autor festgelegten Prämisse vom Anfang bis zum Ende des Romans psychologisch und emotional verändern und entwickeln soll?

 

Zwar ist die Funktion des Triggerns – die individuelle Charakterisierung einer bestimmten Figur – bei beiden gleich; das Ziel dieser besonderen Art der Charakterisierung ist jedoch ein anderes. Im Gegensatz zur Hauptfigur nimmt eine Nebenfigur nur einen relativ begrenzten Raum innerhalb der Szenen einer Geschichte ein, und wenn sie ihre Auftritte hat, geschieht dies oft, weil sie mit dem Protagonisten oder einer anderen – zentraleren – Nebenfigur (die dann oft eine eigene Perspektive besitzt) in die eine oder andere Form von Konflikt gerät. Ein solcher Konflikt wäre auch dann gegeben, wenn sie die emotionale Atmosphäre einer bestimmten Situation aufgrund der Existenz ihrer biografischen wunden Punkte beeinflussen bzw. deren Bedrohlichkeit für den momentanen Protagonisten der Szene verschärfen würde.

 

Nehmen wir beispielsweise an, dass die rechte Hand des Antagonisten einer Geschichte im Grunde ein netter Kerl wäre, der lediglich durch seine biografischen Erfahrungen auf den falschen Weg geraten ist. Während alle wichtigen Bezugspersonen seiner Kindheit und Jugend ihn verraten und im Stich gelassen haben, war der spätere Bösewicht (vielleicht in der Vorgeschichte des Romans der Anführer einer jugendlichen Straßengang, zu Beginn der Geschichte bereits der Kopf eines weltweit operierenden Verbrechersyndikats) der Einzige, der ihm so etwas wie eine Vaterfigur und Familie gewesen ist. Die Verlust- und Verlassenheitserfahrungen ihrer Vergangenheit wären die biografischen wunden Punkte, die diese Nebenfigur als unsichtbaren Rucksack in die Geschichte mitbringt und die durch die Ereignisse der Handlung und das Verhalten des Protagonisten und der anderen Figuren aktiviert werden könnten. Jedes Mal, wenn die Hauptfigur mit dem Gehilfen des Antagonisten zusammentrifft oder dieser Gehilfe in Szenen agiert, in denen seine Loyalität und Treue gegenüber der von ihm verehrten Vaterfigur auf dem Prüfstand steht (z.B. in Dialogen oder bestimmten Situationen), werden gleichzeitig auch seine früheren biografischen Erfahrungen in mehr oder weniger starke Schwingungen versetzt, und sein Verhalten wird sich auf eine spezifische und vorhersagbare Weise zu verändern beginnen.

 

Als eine Nebenfigur ohne eigene Perspektive müsste diese Veränderung vom Autor von außen beschrieben werden, und zwar am elegantesten so, dass der Leser lediglich indirekt spürt, was vermutlich gerade in unserem Gehilfen vor sich geht, ohne dass er explizit mit der Nase darauf gestoßen wird („Dein Boss würde dich ohne zu zögern sterben lassen, wenn du ihm nichts mehr nützt“, sagte James Bond, während er heimlich seine Fesseln lockerte, mit denen er an einen Stuhl gefesselt war. Der Gehilfe des Bösewichts erstarrte, denn offenbar hatte James gerade einen wunden Punkt bei ihm getroffen, und das machte ihn so wütend, dass er das Gespräch abbrach und ging. „So ein Mist“, dachte James. „Fast hätte ich ihn gehabt. Aber beim nächsten Gespräch werde ich vorsichtiger sein, damit mir nicht wieder seine traumatischen Kindheitserfahrungen in meine Pläne pfuschen.“). Hat man als Leser zuvor bereits etwas über die Vergangenheit des Gehilfen erfahren, ist es in Szenen, in denen diese Vergangenheit getriggert wird, in der Regel nicht mehr nötig, noch einmal mit einer expliziten Erklärung darauf hinzuweisen (was einer Szene Dichte und Intensität nehmen und im schlimmsten Fall einfach unnatürlich und gekünstelt wirken würde). In solchen Fällen ist es meist ohne Probleme möglich, lediglich anhand der beschriebenen Körpersprache und/oder einer plötzlichen Veränderung im Gesprächsverhalten einen Eindruck davon zu vermitteln, was gerade in der Figur vorgeht – und mithilfe dieses indirekten Wissens Spannung und Konfliktstoff zu erzeugen.

 

Besitzt die Figur, um die es geht, hingegen eine eigene Perspektive (die Hauptfiguren oder wichtige Nebenfiguren), kann man durch die unmittelbare Beschreibung ihrer Gedanken und Gefühle noch leichter zum Ausdruck bringen, dass in einer bestimmten Situation gerade biografische Erfahrungen in ihr getriggert werden. Auch hierbei wird eine explizite Erklärung darüber, was in diesem Moment mit der Figur geschieht, oft unnötig sein. Entweder verfügt der Leser in der entsprechenden Szene bereits über eine ausreichende Menge an biografischen Hintergrundinformationen über die Figur – was eine Erläuterung ihres Verhaltens überflüssig machen würde –, oder er tut es noch nicht (beispielsweise in den Anfangskapiteln eines Romans), und der Autor setzt die Beschreibung der getriggerten Gedanken und Gefühle als Köder ein, der die Leser auf ihre (noch im Dunkeln bleibende) biografische Backgroundstory neugierig machen soll. Auch in einem solchen Fall wäre eine Erklärung darüber, warum die Figur gerade diese bestimmten Gedanken und Gefühle hat, für die Wirkung der Szene an dieser Stelle kontraproduktiv.

 

Als kleine Illustration, wie der indirekte Umgang mit schmerzhaften biografischen Erfahrungen bei einer Figur aussehen kann, möchte ich eine Textpassage aus meinem Fantasy-Roman „Wächter des Elfenhains“ zitieren. In der fraglichen Szene geht es um den Elfen Neanden, dessen Vater Ionosen 90 Jahre zuvor gegen den Willen der übrigen Elfen die magische Anderswelt verlassen hat und in die Welt der Menschen gegangen ist, um dort den Verräter Ogaire zu jagen, der während dieser Zeit mit einer Menschenfrau ein Kind gezeugt hat. Dieses Kind – Andion – ist kurz zuvor von dem Elfenhain zu sich gerufen worden, hat einige Wochen im Hain verbracht und ist nun wieder in die Menschenwelt und in die Obhut Ionosens zurückgekehrt, der es vor dem Zugriff Ogaires beschützt. Bis zu diesem Zeitpunkt der Geschichte ist Neanden voller Zorn und Verbitterung gegenüber seinem Vater, von dem er sich verraten und im Stich gelassen fühlt. Die Szene ist aus der Perspektive Neandens geschrieben:

 

 

Wie, bei allen Bäumen, hatte es nur so weit kommen können? Wie konnte es sein, dass der Abkömmling einer widerwärtigen Kreatur wie Ogaire in ihrem Hain ein- und ausgehen konnte, wie es ihm gefiel, dass er schamlos aus der Quelle des Lebens trank, um sein eigenes unwürdiges Dasein noch um ein paar weitere jämmerliche Wochen oder Monate in die Länge ziehen zu können, während überall rings umher Elfen, Bäume und Wesen des Kleinen Volkes qualvoll dahinsiechten und starben? Und wie konnte ihn sein Vater bei einer derartigen Blasphemie auch noch unterstützen? Ionosen …

Mit einem Ruck blieb Neanden stehen, und seine Kiefer mahlten knirschend aufeinander. Was mochte er jetzt wohl gerade tun? Saß er mit Ogaires Sohn gemütlich bei Kaffee und Kuchen und wartete darauf, dass der Ruf erneut erklang? Oder schlenderte er mit ihm und seiner Mutter in inniger Vertrautheit durch die Wälder, lachten und scherzten sie miteinander auf der Suche nach einem idyllischen Fleckchen, wo sie sich im warmen Gras die Sonne aufs Gesicht scheinen lassen oder über einem Lagerfeuer Kastanien rösten konnten?

Neanden ballte seine Hände zu Fäusten, grub sich seine Fingernägel ins Fleisch, bis seine Handballen schmerzhaft zu pochen begannen. Warum hatte der Bastard nur herkommen müssen? Und warum nur fiel es ihm so schwer, ihn aus seinen Gedanken zu verbannen, obwohl er nichts mehr herbeigesehnt hatte als den Moment, in dem der Mistkerl endlich wieder unter dem Stein verschwand, unter dem er so unerwartet hervorgekrochen war, und den Hain und seine Bewohner nicht länger mit seiner Anwesenheit verhöhnte?

Immer öfter ertappte er sich dabei, wie er auf seinen ruhelosen Wanderungen innehielt, wie sich seine Konzentration nach innen kehrte und er mit allen Sinnen auf das zarte Wispern lauschte, das anzeigte, dass Ogaires abscheuliches Gezücht abermals die Grenze überschritten hatte und in die Elfenwelt zurückgekehrt war. Doch wahrscheinlich hatte es gar nicht anders sein können, schließlich musste er bereit sein, wenn die Kreatur das nächste Mal erschien.

 

 

Im weiteren Verlauf der Geschichte erkennt Neanden, dass unter seinem Zorn und seiner Verbitterung in Wahrheit die Liebe zu seinem Vater verborgen lag, die er 90 Jahre lang mit Gewalt aus seinem Bewusstsein verdrängt hat. Die Tatsache, dass sein Vater ihn allein im Elfenhain zurückgelassen hat und stattdessen dem Verräter Ogaire in die Menschenwelt gefolgt ist, hat eine tiefe biografische Wunde in ihm erzeugt, die jederzeit durch die entsprechenden situativen Auslöser getriggert werden kann. Hätte ich all diese Dinge in der obigen Szene allerdings offen ausgesprochen, hätte die große Gefahr bestanden, dass die Beschreibung von Neanden an dieser Stelle platt und dadurch langweilig gewirkt hätte. Stattdessen habe ich darauf vertraut, dass die Gedanken, die ihm – scheinbar gegen seinen Willen – ständig durch den Kopf gehen, als indirekte sprechende Details stark genug sein würden, um den Lesern zu verdeutlichen, wie es um Neandens seelische Befindlichkeit in diesem Moment bestellt ist. In seiner Fantasie sieht er seinen Vater mit dem Sohn des Verräters in inniger Vertrautheit bei Kaffee und Kuchen oder bei einem Spaziergang im Wald, und er versteht nicht, warum es ihm so schwerfällt, die Gedanken an Andion und seinen Vater aus seinem Kopf zu verbannen. Dass der Grund dafür seine Eifersucht und sein seelischer Schmerz waren, die auch seinen Blick auf Andion gefärbt haben, wird ihm erst später klar (dem Leser aber hoffentlich sofort). Was Neanden an dieser Stelle nicht tut, ist, auf einer Meta-Ebene über sich selbst, seinen Vater und Andion zu reflektieren. Er versteht sich selbst nicht, ist wütend, verwirrt und verzweifelt, und seine Gedanken und Fantasien fungieren in Form von indirekten sprechenden Details als Hinweisreize für den Leser, um ihm verständlich zu machen, wie es auf dem tiefsten Grund seiner Seele in Neanden aussieht.

 

Mit dem Wissen um biografische wunde Punkte ist es für einen Autor nicht nur möglich, die Haupt- und Nebenfiguren einer Geschichte tiefer und differenzierter zu charakterisieren, sondern auch die Struktur der Romanhandlung selbst an neuralgischen Stellen maßgeblich zu beeinflussen. Hier gilt vor allem das, was der Psychologe und Kommunikationsforscher Friedemann Schulz von Thun in seinen Büchern immer wieder betont hat (z.B. in „Miteinander reden, Band 1, Rowohlt Verlag 1981): Menschen handeln oft nicht logisch, aber immer psycho-logisch. Das bedeutet, dass Figuren nicht um jeden Preis vollkommen rationale und logisch plausible Gründe für ihr Handeln benötigen, um für den Leser und die Geschichte, in der sie auftreten, glaubwürdig zu sein. Das Wichtigste ist nicht die kühle Logik ihres Verhaltens (nach dem Motto: „Wenn der Held von dem Bösewicht mit einer Pistole bedroht wird, muss er sich in dieser bestimmten Situation aufgrund dieser speziellen Gefahrenlage für diese oder jene Handlung entscheiden, weil das eben das Vernünftigste wäre.“ Dass er plötzlich anfängt, vor dem Antagonisten ein kleines Stepptänzchen aufzuführen und zu jodeln, wäre ganz gewiss nicht logisch, könnte sich aber dennoch vollkommen plausibel aus seiner Persönlichkeit, seiner Biografie und seinen getriggerten biografischen wunden Punkten herleiten. Das müsste natürlich vom Autor sehr gut begründet werden, wäre aber aufgrund der Psycho-Logik der Figur nicht undenkbar), sondern die Tatsache, dass dieses Verhalten zu jedem Zeitpunkt der Geschichte fest in ihrer Persönlichkeit, ihrem biografischen Überzeugungs-Netzwerk und ihren daraus hervorgehenden wunden Punkten verankert ist. Dann ist es auch möglich, selbst weitreichende Plot-Twists und Wendungen innerhalb der Geschichte für den Leser plausibel und hinsichtlich der Dramaturgie der Romanhandlung glaubhaft durch getriggerte biografische Erfahrungen der Figuren herbeizuführen.

 

Der neueste Roman von Robert McCammon um den ehemaligen Gerichtsdiener Matthew Corbett, der im Amerika des beginnenden 18. Jahrhunderts Kriminalfälle löst („Matthew Corbett und der maskierte Rächer, Luzifer Verlag 2023), ist hierfür ein sehr gutes Beispiel. Im Verlauf der Geschichte gerät der arme Matthew mit einer wahrhaft diabolischen Gegenspielerin aneinander (eine von mehreren Antagonisten, die sich in ihrer Abscheulichkeit alle in nichts nachstehen), und er erfährt, dass diese Frau als Kind den Selbstmord ihrer verrückten Mutter mitansehen musste, die sich zusammen mit ihrer Tochter in ihrem Haus verbrennen wollte. Das Kind überlebt, behält aber schwere Narben aufgrund der erlittenen Verbrennungen zurück, die sie als Erwachsene mit viel Schminke und einer Perücke für die Umwelt weniger offensichtlich machen möchte. Dies ist der biografische wunde Punkt der Figur, mit dem der Autor den Helden und die Leser bereits recht früh in der Geschichte bekannt macht. Bis zum Endkampf zwischen Matthew und der Bösewichtin spielt diese Information keine Rolle, doch dann – als es für unseren Helden gerade so richtig schlecht aussieht – wird sie unvermittelt zum entscheidenden Faktor, durch den der beinahe sichere Tod der Hauptfigur abgewendet und doch noch in einen Sieg verwandelt werden kann. Denn mitten im brutalsten Handgemenge gelingt es Matthew, seiner Widersacherin die Perücke vom Kopf zu reißen und in eine Kerzenflamme zu werfen – mit dem Ergebnis, dass die Gute plötzlich verzweifelt versucht, diese Perücke vor dem Verbrennen zu bewahren, statt unserem Helden weiter die Luft abzudrücken. Der kurze Augenblick der Ablenkung genügt Matthew, um seinerseits im Kampf die Oberhand zu gewinnen und schließlich den (wohlverdienten) Sieg davonzutragen.

 

In diesem Beispiel hat der Autor das Wissen um das Triggern von biografischen wunden Punkten verwendet, um eine bis zu diesem Zeitpunkt der Geschichte schier übermächtige Gegnerin im entscheidenden Moment auf eine glaubwürdige Weise zu schwächen und einen Angriffspunkt für den Protagonisten zu schaffen, den dieser im Showdown des Romans für sich nutzen konnte. Als positiver Nebeneffekt gewinnt die Hauptfigur dadurch nicht nur den Kampf und rettet ihr Leben, sondern zeigt auch, wie intelligent und gerissen sie ist, weil sie die fragliche Information nicht einfach vergessen oder als unwichtigen Unsinn abgetan, sondern in ihrem Hinterkopf abgespeichert hat, bis der richtige Augenblick gekommen war, um sie gegen die Antagonistin einzusetzen. Hier zeigt sich, wie wichtig es für einen Autor ist, seine Figuren mit ihrer Biografie und ihren biografischen Traumata gut zu kennen und sich bereits vor Beginn des Schreibens zu überlegen, wie die wunden Punkte der Figuren beschaffen sind und auf welche Weise sie in bestimmten Situationen getriggert werden können. Das muss nicht unbedingt – wie im Beispiel von Robert McCammon und seinem Matthew Corbett – in einer der wichtigsten Szenen der Geschichte handlungsentscheidend sein, wird aber selbst in unbedeutenderen Situationen oder Dialogen immer dazu beitragen, die Figuren farbiger, glaubwürdiger und interessanter zu machen. Und das ist eine Chance, die sich, wie ich finde, kein Autor entgehen lassen sollte.

 

 

Warum man nicht nicht kommunizieren kann - Juli 4, 2015 by Susanne Gavénis

Die große Frage, was eine gelingende von einer gescheiterten oder gestörten Kommunikation unterscheidet, ist auch unmittelbar für jeden Autor relevant, der seine Geschichten nicht nur mit hübschen Landschaftsbeschreibungen schmücken will. Wie kann es passieren, dass ein Gespräch, bei dem vielleicht jeder der Beteiligten die allerbesten Absichten hat, manchmal binnen Sekunden komplett aus dem Ruder läuft und aufs Heftigste eskaliert, und wie kann man diese Erkenntnisse für seine eigenen Romanfiguren nutzen? Dieses Problem ist komplex und vielschichtig, und ich werde mich ihm aus unterschiedlichen Richtungen zu nähern versuchen.

Was man sich oft weder als Autor beim Schreiben seiner Szenen noch als realer Mensch im Umgang mit anderen realen Menschen klar macht, ist die fundamentale Tatsache, dass eine Kommunikation (also ein Dialog im weitesten Sinne) letztlich bereits beginnt, sobald eine Person einen Raum betritt, in dem sie nicht allein ist, bzw. in einer Szene zusammen mit einer oder mehreren anderen Personen auftaucht. Allein ihre körperliche Anwesenheit setzt diese Kommunikation bereits in Gang, da ihr Körper – ob sie das nun will oder nicht – eine riesige Leinwand ist, auf der ihre Persönlichkeit, ihre gegenwärtigen Wünsche und Absichten, ihre Bedürfnisse und Ängste sichtbar werden, ohne dass auch nur ein einziges gesprochenes Wort fallen müsste. Da die Sprache des Körpers viel unbewusster ist und in der menschlichen Entwicklung der Fähigkeit zum verbalen Kommunizieren deutlich vorausgeht, ist sie von zentraler Bedeutung in jeder Szene, in der zwei oder mehr Figuren miteinander interagieren, und jeder Autor sollte der Körpersprache in seinen Geschichten mindestens ebenso viel Beachtung schenken wie dem verbal geäußerten Wort.

Diese weitgehende Unbewusstheit des eigenen körpersprachlichen Ausdrucks führt dazu, dass Menschen in Situationen, in denen sich die Körpersprache und das gesprochene Wort eines Gegenübers widersprechen, ganz instinktiv und automatisch der Körpersprache das Vertrauen schenken (was einer der Gründe ist, warum viele Trickbetrüger, die gelernt haben, ihre Körpersprache bewusst und gezielt für ihre Zwecke einzusetzen, so erfolgreich sind). Wenn ein Mensch beispielsweise weint, seine Traurigkeit aber nicht zugeben will und auf eine besorgte Nachfrage stattdessen beteuert: „Mach dir keine Gedanken, mir geht’s gut!“, wird diese verbale Versicherung die Besorgnis seines Gesprächspartners vermutlich nicht zerstreuen können, da er der Wahrheit des Körpers wahrscheinlich den Vorzug vor der Wahrheit des gesprochenen Wortes geben wird. Oder wenn ein Mensch einen anderen umarmt, dieser jedoch dabei ganz starr wird und sich verkrampft, hinterher aber energisch behauptet: „Ich liebe dich!“, wird diese Liebesbekundung wohl eher wenig Begeisterung auslösen.

Dieser Kontrast zwischen Körpersprache und verbaler Sprache bietet für das Schreiben von Geschichten und die Gestaltung von Dialogen viele Möglichkeiten, die man nutzen kann, um Dialoge intensiver und konflikthafter zu machen. Zum einen kann man die Körpersprache dazu benutzen, um verbale Äußerungen seiner Figuren zu unterstreichen und sie gewissermaßen mit starken Gefühlen aufzuladen, etwa wenn eine Figur bei ihren Worten ihre Fäuste so fest ballt, dass ihre Fingernägel ihr tief in die Handballen dringen, die Stirn runzelt oder ihre Augen verengt, die Zähne fletscht, sie kampflustig das Kinn nach vorne reckt, ihre Lippen beben, sich ihre Schultern verkrampfen, ihr Gesicht maskenhaft starr wird, etc.. In solchen Fällen entsprechen sich die Körpersprache und das gesprochene Wort einer Figur, was diese Dialogstellen intensiviert und sowohl für den fiktiven Gesprächspartner als auch für den Leser in ihrer Wirkung verstärkt.

Eine andere Art von Intensivierung des Dialogs kann man erzeugen, wenn die Körpersprache und das gesprochene Wort in Widerspruch zueinander stehen, da dies unmittelbar zu einem Konflikt hinführt und Fragen für den Leser aufwirft. Warum gibt es diesen Widerspruch, was geht in diesem Moment in der betreffenden Figur vor, wie reagiert ihr Gegenüber darauf, macht er ihn offen zum Thema oder ignoriert er ihn, und was bedeutet dies wiederum für die Figur, die ursprünglich widersprüchlich kommuniziert hat? Sofort bietet sich ein vielfältiges Feld von Möglichkeiten, wie sich der Dialog anhand dieses ins Spiel gebrachten Widerspruchs konflikthaft weiterentwickeln kann, zumal dabei ja auch stets eine Widersprüchlichkeit und ein Konflikt in der Persönlichkeit der entsprechenden Figur existieren, die man als Autor nutzen kann. Jeder Mensch und jede Romanfigur, die widersprüchlich kommunizieren, werden auf alle Fälle gute Gründe dafür haben, und wenn man diese Figuren im Rahmen seiner Geschichte in Situationen hineinwirft, in denen diese Gründe zu inneren und äußeren Konflikten führen, wird der Leser davon gefesselt und will wissen, wie es mit diesen Konflikten weitergeht.

Die Körpersprache ist also für einen Autor ein hervorragendes Mittel, um durch ihren Widerspruch zum gesprochenen Wort Konflikte sichtbar zu machen, die im Inneren der Figuren existieren, und diese Konflikte zugleich in den Kontakt und die Kommunikation mit anderen Figuren hineinzutragen. Dabei gilt stets die alte Weisheit, dass man niemals nicht kommunizieren kann, da bereits Schweigen bestimmte Botschaften enthält, die andere Menschen oder Figuren wahrnehmen und mit ihrer eigenen Persönlichkeit und ihren eigenen inneren Konflikten beantworten werden, ob man das mit seinem Schweigen nun gewollt hat oder nicht. Gerade das aber macht sowohl den Umgang mit realen Menschen als auch mit Romanfiguren so interessant.

 

Aufgabe: Schreiben Sie einen konflikthaften Dialog, bei dem eine der Figuren auf eine widersprüchliche Weise kommuniziert und verbale und Körpersprache nicht übereinstimmen.

  1. Schreiben Sie diesen Dialog aus der Innenperspektive der Figur, die aufgrund ihres eigenen inneren Konflikts widersprüchlich kommuniziert, während man die Reaktionen ihres Dialogpartners nur von außen wahrnimmt.
  2. Schreiben Sie den gleichen Dialog aus der Innenperspektive des Dialogpartners der Figur, die widersprüchlich kommuniziert. Wie geht dieser Dialogpartner mit den widersprüchlichen Botschaften seines Gegenübers um, welche Gedanken und Gefühle lösen sie in ihm aus, wie färben sie seine Sicht auf die andere Figur?

Ziel: Ein Gefühl für die Wirkung von inneren Konflikten einer Figur zu bekommen, die sich durch widersprüchliche Botschaften im Verhalten dieser Figur zeigen, ist eine wichtige Aufgabe für jeden Autor. Diese Wirkung umfasst sowohl die Innenperspektive derjenigen Figur, die auf eine solche Weise von inneren Konflikten und widersprüchlichen Impulsen, Absichten und Wünschen gequält wird, als auch die Figuren, die in Dialogen oder Handlung mit widersprüchlich kommunizierenden Figuren zu tun haben. Diese Übung soll dabei helfen, das Verständnis für die Gefühle, Gedanken und Reaktionen beider Seiten eines derartigen Dialogs zu vertiefen.

 

Über die Leichtigkeit, aneinander vorbeizureden - Juli 3, 2015 by Susanne Gavénis

Jeder wird wahrscheinlich irgendwann einmal die Erfahrung gemacht haben, dass ein anderer Mensch ihn einfach nicht versteht, und dass es zu Streit und Konflikten kommt, obwohl man doch selbst die allerbesten Absichten hatte und sich keinerlei Schuld bewusst ist (was der Gesprächspartner natürlich völlig anders sieht). Die Frage, warum solche konflikthaften Situationen oft wie aus dem Nichts zu entstehen scheinen und manchmal innerhalb von Sekunden eine Schärfe und Dramatik annehmen können, mit der keiner der Beteiligten gerechnet hätte, habe ich in dem Artikel über Körpersprache und widersprüchliche Botschaften schon einmal kurz angerissen.

Sowohl bei dem körpersprachlichen Verhalten, das ein Mensch (oder eine Romanfigur) zeigt, als auch bei den einander widersprechenden Botschaften und Signalen, die er seinem Gesprächspartner senden kann, spielt die Deutung dieses Verhaltens und der Signale eine entscheidende Rolle. Was geht beispielsweise in einem Menschen vor, der auf eine Gesprächsäußerung von mir plötzlich seine Arme verschränkt, sich abrupt auf seinem Stuhl zurücklehnt und seine Lippen aufeinander presst? Habe ich ihn durch das, was ich gerade gesagt habe, verärgert, oder hat ihn lediglich sein Magengeschwür gezwickt, weil er am Morgen etwas Falsches gegessen hat? So unsicher eine solche Situation für den Gesprächspartner ist, da er sich notgedrungen innerhalb weniger Augenblicke für irgendeine Deutung entscheiden und dieser Deutung entsprechend handeln muss, so viele Möglichkeiten bietet sie für Autoren, ihre Figuren in Konflikte hineingeraten zu lassen, die durch die simple Tatsache einer Fehlinterpretation gehörter Worte oder wahrgenommenen Verhaltens hervorgerufen wurden.

Was für verschiedene Facetten von möglichen Fehlinterpretationen es hierbei geben kann, zeigt auf eine eindrückliche Weise das Kommunikationsmodell der vierseitigen Nachricht, das der Kommunikationsforscher Friedemann Schulz von Thun entwickelt hat und das auch für den Umgang eines Autors mit seinen Romanfiguren ausgesprochen nützlich sein kann, wenn es darum geht, die tieferen Motivations- und Konfliktebenen in einem Dialog zwischen seinen Figuren im Blick zu behalten. Nach diesem Modell sind in allem, was ein Mensch sagt oder tut (also sowohl in seinen gesprochenen Worten als auch in seiner Körpersprache) stets vier verschiedene Botschaften enthalten, die alle gleichzeitig an den Gesprächspartner gesendet werden – ob man das nun will oder nicht oder ob es einem bewusst ist oder völlig unbewusst bleibt – und die der Gesprächspartner interpretieren muss.

Zum einen zeige ich meinem Gegenüber mit jeder meiner Äußerungen, was gerade in mir vorgeht, was für Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse ich in diesem konkreten Moment habe. Das ist die Ebene des Selbstausdrucks. Dieser Selbstausdruck kann von einem Menschen bewusst eingesetzt werden, um eine bestimmte Wirkung beim anderen zu erzielen, oder er kann völlig unabsichtlich und unbewusst sein. Ein Mann, der in Cowboy-Stiefeln und eng sitzendem T-Shirt, durch das man seine Fitnessstudio-gestählten Bizeps bewundern kann, eine Kneipe betritt, möchte vielleicht ganz bewusst über sich selbst zum Ausdruck bringen: „Ich bin ein cooler Typ!“ So etwas wäre bei Romanfiguren (bei realen Menschen natürlich auch) ein sogenanntes sprechendes Detail, weil es – ohne dass der Autor irgendeine auktoriale Erklärung dazu abgeben müsste – etwas Bestimmtes über eine Figur aussagt. Und je mehr solcher sprechenden Details in die gleiche Richtung weisen, desto klarer wird der emotionale Eindruck sein, den der Leser von dieser Figur hat. Ein sprechendes Detail wäre es ebenso, wenn der Selbstausdruck der Figur ihr selbst unbewusst wäre, etwa wenn sie glaubt, ihr Alkohol-Problem vor der Welt verborgen zu haben, während alle Kollegen im Büro schon Witze über die Weinfahne reißen, die ihnen jeden Morgen von dieser Figur entgegenweht.

Die zweite Botschaft, die jeder Mensch und jede Romanfigur bei jeder Äußerung automatisch mitsendet, betrifft die Ebene des Appells. Alles, was ein Mensch tut oder sagt, geschieht mit einer bestimmten Absicht und soll seinen Gesprächspartner in einer bestimmten Weise beeinflussen. Wenn ich weine, möchte ich vielleicht, dass die anderen Mitleid mit mir haben und mich trösten (und auch, wenn ich diese Absicht nicht habe, spürt mein Gegenüber in der Regel durchaus einen Appell, in irgendeiner Form auf meine Tränen zu reagieren), wenn ich meinen Arbeitskollegen in allen Einzelheiten von meinem grandiosen Sommerurlaub erzähle, will ich möglicherweise, dass sie neidisch auf mich sind.

Die dritte Ebene, die bei jeder meiner Äußerungen stets mit im Spiel ist, ist die Beziehungsseite meiner Nachricht. Mit allem, was ich tue oder sage, sage ich gleichzeitig auch etwas über die Art der Beziehung, die ich glaube, mit einem anderen Menschen zu haben, oder die ich mit meinem Verhalten herstellen will. Ein Mann, der einer wildfremden Frau auf der Straße innerhalb von fünf Minuten seine traumatischsten Kindheitserlebnisse erzählt und sie danach noch zum Einkaufen und zum Frisör begleitet, obwohl ihr das zunehmend unangenehmer wird, zeigt damit, wie er die Beziehung zu dieser Frau sieht. Auch ein Mensch, der seelenruhig in seinem Sessel sitzt und Zeitung liest, während sein Ehepartner bereits seit zwei Stunden im Schweiße seines Angesichts die Wohnung putzt, sendet mit einem solchen Verhalten – neben allem, was er sonst auch tut oder sagen mag – eine klare Botschaft auf der Beziehungsebene. Auch dies wären sprechende Details, die auf eine indirekte Weise – ohne dass es offen ausgesprochen werden müsste – etwas über eine Figur und ihr Verhältnis zu anderen Figuren aussagen würden.

Die vierte Ebene, auf der jeder Mensch bei jeder Äußerung eine Botschaft an den Gesprächspartner mitsendet, ist die Sachseite seiner Nachricht, also ganz schlicht das Thema, über das er gerade kommuniziert. Wenn Missverständnisse und Fehlinterpretationen diese Ebene betreffen, sind die daraus entstehenden Konflikte oft weniger dramatisch, allein aufgrund der Tatsache, dass sich alle Menschen über die elementaren Rahmenbedingungen der gegenwärtigen Situation in der Regel einig sind. Auf die Äußerung: „Uff, ist das heiß heute!“ mag der eine zustimmend nicken, während der andere entgegnet: „Ach, so schlimm finde ich es gar nicht!“, aber trotzdem wissen alle, dass es Sommer ist und das Thermometer immer höher steigt. Heftige Konflikte, die sich dennoch durch Fehlwahrnehmungen auf der Sachebene entzünden, können schnell in den Bereich massiver psychischer Störungen und Psychosen hineinreichen – wobei natürlich in einem solchen Fall die anderen drei Ebenen, vor allem die des Selbstausdrucks, besondere Bedeutung gewinnen, etwa wenn alle in Badeanzug und Badehose ins nächste Freibad pilgern, weil man auf dem Asphalt bereits Spiegeleier braten kann, während sich der kleine Horst-Detlef stattdessen in fünf Lagen Rollkragenpullover hüllt, sich seine Pudelmütze und Handschuhe überstülpt und seinen Schlitten aus der Garage holt.

Das Wichtige an diesen vier verschiedenen Seiten einer Nachricht ist nun, dass sie – da sie stets gleichzeitig mit jeder Nachricht sozusagen als Gesamtpaket mitgeschickt werden – vom Gesprächspartner interpretiert werden müssen, und das bedeutet, dass es sowohl auf der Sachseite einer Nachricht als auch auf der Selbstausdrucks-, Beziehungs- und Appellseite zu falschen Deutungen kommen kann, die zu heftigen Konflikten zwischen Menschen (und Romanfiguren) führen können. Selbst Äußerungen, die völlig eindeutig und positiv zu sein scheinen, können auf jeder dieser vier Ebenen vom Gesprächspartner missinterpretiert werden, etwa wenn eine Person zu einer anderen sagt: „Du siehst aber heute gut aus!“, woraufhin sich ihr Gesprächspartner brüsk abwendet, weil er statt des Kompliments (was es eigentlich sein sollte) vom anderen die Botschaft gehört hat: „Ich verachte dich, weil du dein Leben nicht auf die Reihe kriegst und völlig ungepflegt durch die Gegend läufst, und will dich deshalb mit einem geheuchelten Kompliment verhöhnen.“ Hier wäre es auf allen vier Ebenen der geäußerten Nachricht zu falschen Deutungen auf Seiten des Gesprächspartners gekommen, und jede dieser falschen Deutungen auf jeder Ebene hätte allein bereits ausgereicht, um einen Konflikt hervorzurufen.

Aufgabe: Schreiben Sie einen Dialog zwischen zwei Figuren, bei dem es auf möglichst vielen Ebenen der zwischen den Figuren gesendeten Nachrichten zu falschen Interpretationen kommt. Überlegen Sie sich dazu vorher jeweils für den Sender (also diejenige Figur, die gerade spricht oder sich in irgendeiner Form verhält), was er bei seiner allerersten Äußerung auf der Selbstausdrucksebene, der Beziehungsebene, der Appellebene und der Sachebene denkt und empfindet, und tun Sie dann dasselbe auf der Seite des Empfängers (also des Gesprächspartners, der das Gesagte oder das Verhalten der ersten Figur wahrnimmt und darauf reagiert). Schreiben Sie anschließend den Dialog zwischen den Figuren, bei dem sich das in den beiden ersten Sätzen entstandene Missverständnis als thematischer roter Faden durch das verbale und körpersprachliche Verhalten von beiden Gesprächspartnern zieht.

Ziel: Gerade bei konflikthaften Situationen und Dialogen zwischen Figuren ist es wichtig, sich als Autor bewusst zu sein, dass solche Konflikte nicht aus dem Nichts heraus entstehen und eskalieren, sondern Gründe haben, die im Denken und Fühlen der Figuren liegen und zu spezifischen Fehlwahrnehmungen und –interpretationen führen, die sowohl die verbalen Äußerungen als auch das Verhalten beeinflussen. Diese Übung soll dabei helfen, die sinnhafte Struktur und Dynamik von Konflikten in Dialogen klarer im Blick zu behalten, um zu verhindern, dass sich der Konflikt von der konkreten Psychologie der handelnden Figuren ablöst und zum (unplausiblen) Selbstzweck wird.

Das Konfliktpotenzial der freien Wahl - Juli 2, 2015 by Susanne Gavénis

Das Besondere am Konzept der vierseitigen Nachricht, das ich in meinem letzten Beitrag vorgestellt habe, ist nicht nur, dass alle vier Seiten zur gleichen Zeit an den Gesprächspartner übermittelt werden und es deshalb auf jeder von ihnen zu Fehlinterpretationen beim jeweiligen Empfänger kommen kann, sondern dass der Empfänger darüber hinaus auch die freie Wahl hat, auf welche Seite er bei seiner Antwort überhaupt reagieren will – völlig unabhängig davon, ob dem Sender der Nachricht nicht etwas gänzlich anderes wichtig war. Der Gesprächspartner kann beispielsweise bei seiner Antwort alle Seiten der Botschaft bis auf die des Selbstausdrucks ignorieren, obwohl der Sender möglicherweise das Gewicht auf die Appellseite legen wollte. So mag es ein wenig bizarr anmuten, wenn der Feldwebel beim Exerzieren mit Donnerstimme brüllt: „Gefreiter Schulze, da ist ja ein Fleck auf Ihren Stiefeln!“ und Schulze mitfühlend antwortet: „Sie Ärmster! Ihr Sauberkeitszwang muss Sie ja wirklich quälen! Aber ich kenne da einen guten Therapeuten, der hat auch meiner Tante Gertrude geholfen.“

Eine solche Verwechslung der Ebenen kann – wie so vieles andere auch – unabsichtlich geschehen, etwa aufgrund mangelnder sozialer Kompetenz, bestimmter biographisch erworbener Überzeugungen und Ängste u.a., oder sie kann gezielt vom Empfänger eingesetzt werden, um zum Beispiel einen Konflikt zu provozieren oder den Sender der Nachricht ins Leere laufen zu lassen. Vor allem die Betonung der Selbstausdrucks-Seite auf Kosten der anderen drei Seiten (also der Sachseite, der Beziehungsseite und der Appellseite) kann leicht als bewusstes Machtinstrument in Gesprächen missbraucht werden, um sich gegen Kritik zu immunisieren, z.B. wenn jemand sagt: „Wie kannst du es wagen, zu behaupten, ich wäre immer unpünktlich? Wer mit 45 noch Micky Maus-Comics liest, sollte erst mal erwachsen werden, bevor er andere kritisiert!“ Hier wird eine biographische Information, mit der der Sender etwas über seine Persönlichkeit aussagt, die aber nichts mit dem aktuellen Gespräch zu tun hat, absichtlich ins Spiel gebracht, um vom wahren Inhalt der Botschaft abzulenken. Auch ein absichtliches Unterstellen falscher Motive zielt in dieselbe Richtung, nach dem Motto: „Was, du magst meinen Schokoladenkuchen nicht? Das sagst du doch nur, weil du in der Schule immer gemobbt wurdest und dich jetzt an irgendeinem völlig Unschuldigen dafür rächen willst!“ Der möglicherweise gänzlich harmlose Appell „Lass uns doch das nächste Mal Zitronenkuchen essen!“ wird umgedeutet in einen ungerechtfertigten Angriff, den der Empfänger postwendend zum Sender zurückschmettert, und die eigentliche Botschaft bleibt unbeachtet.

Diesen Mechanismus der Verwechslung der Ebenen kann ein Autor in vielen Dialogen zwischen seinen Figuren einsetzen, um – entsprechend der jeweiligen Persönlichkeit der Figuren – Konflikte zu verschärfen, aber auch, um Entwicklungsprozesse von Figuren auf eine konstruktive Weise voranzubringen, indem z.B. biographisch angelegte Konflikte offener zur Sprache kommen. Wenn etwa ein Bruder zum anderen sagt: „Du willst, dass ich dir einen Keks gebe? Hol dir deinen verdammten Keks doch selbst! Deine Arroganz ist mal wieder typisch! Aber du bist ja immer von unserem Vater vorgezogen worden und durftest mit ihm zum Holzhacken in den Wald, während ich zu Hause bei Mutter bleiben musste. Du hast immer deinen Willen bekommen!“, könnte der andere Bruder entgegnen: „Was, du glaubst, Vater hätte mich vorgezogen? Ich habe das Holzhacken mit ihm gehasst! Nie war ich ihm gut genug. Aber als ältester Sohn sollte ja unbedingt ich sein Geschäft übernehmen. Du durftest immer bei Mutter bleiben. Wie sehr ich dich darum beneidet habe!“ In diesem Beispiel führt die Verwechslung bzw. einseitige Gewichtung der Ebenen durch den Empfänger (vom schlichten Appell: „Gib mir einen Keks!“ zu massiv negativ wahrgenommenen Selbstausdrucks- und Beziehungsbotschaften, die der eine Bruder glaubt, aus den Worten des anderen herausgehört zu haben) dazu, dass seit langer Zeit verkrustete biographische Konflikte zwischen den Brüdern aufbrechen und sich auf eine Lösung hin entwickeln können.

Viele Menschen haben aufgrund ihrer individuellen biographischen Erfahrungen solche einseitigen Empfangsgewohnheiten ausgebildet, die ihnen oft kaum oder gar nicht bewusst sind und die ihre Wahrnehmung und ihr Verhalten auf eine bestimmte Weise beeinflussen. So könnte ein Mensch, der aufgrund seiner früheren Erlebnisse Angst vor seinen Gefühlen und dem Gefühlsausdruck anderer entwickelt hat, es vorziehen, an ihn gerichtete Botschaften überwiegend auf der Sachseite wahrzunehmen und alle darin möglicherweise enthaltenen emotionalen Selbstausdrucks- und Beziehungsanteile auf Seiten seines Gesprächspartners mehr oder weniger aktiv herauszufiltern und unbeachtet zu lassen. Eine solche einseitige Gewichtung würde natürlich fast zwangsläufig zu Konflikten mit seiner sozialen Umwelt führen, die man als Autor – wäre es eine Romanfigur – für seine Geschichte nutzbar machen kann. Ein schüchterner und sehr an seinem Selbstwert zweifelnder Mensch mag demgegenüber vielleicht die Beziehungsseite oder die Appellseite an ihn gerichteter Nachrichten überbetonen und fehldeuten, etwa wenn sein Gesprächspartner sagt: „Ist das kalt heute!“ (was erst einmal ein reiner Selbstausdruck der Empfindungen des Senders ist und überhaupt nichts mit dem Empfänger zu tun haben muss) und er aus Furcht, sonst unbeliebt zu sein, sofort aufspringt, um ihm eine Decke zu holen. Auch diese unausgewogene Empfangsgewohnheit würde sowohl bei einem Menschen als auch bei einer Romanfigur zu bestimmten Arten von zwischenmenschlichen Konflikten führen, die ein immer wiederkehrendes Muster bilden würden, das sich als konflikthafter biographischer roter Faden durch Dialoge und Szenen zieht. Gerade einseitige Empfangsgewohnheiten auf der Beziehungsseite zeigen sich oft in vermeintlich negativen Aussagen zur eigenen Person, die der Empfänger vom Sender zu bekommen glaubt, da eine überbetonte Beziehungsseite beim Wahrnehmen von Botschaften und ein geringes Selbstbewusstsein oft Hand in Hand gehen (obwohl natürlich auch das Gegenteil möglich ist), etwa wenn im Restaurant der eine Gesprächspartner zum anderen sagt: „Schau dir das mal an! Die Pizza, die ich bestellt habe, ist ja total angebrannt!“ und der andere sofort denkt, dass sein Freund böse auf ihn ist, weil er so dumm war, dieses miese Restaurant auszusuchen.

Bei Figuren in einem Roman ist es außerordentlich wichtig, solche einseitigen Empfangsgewohnheiten und daraus resultierenden Fehlinterpretationen auf eine plausible Weise mit der Biographie der entsprechenden Figur zu verknüpfen. Spezielle Erlebnisse positiver und negativer Art im Lauf des Lebens führen dazu, dass ein Mensch – und daher auch eine Romanfigur – bestimmte Überzeugungen von sich selbst und seinem Verhältnis zu seiner Umwelt bildet, und diese Überzeugungen wiederum sind der Grund für eine verzerrte Wahrnehmung empfangener Botschaften auf der Selbstausdrucks-, Beziehungs-, Sach- oder Appellseite. Auch eine Figur, die die Äußerungen anderer Figuren absichtlich falsch versteht, obwohl sie sie durchaus so empfängt, wie der Sender es beabsichtigt hatte, muss auf jeden Fall biographisch gut motiviert sein, damit ein solches Verhalten nicht zum reinen Selbstzweck wird und nur dazu dient, ohne Sinn und Verstand Konflikte zu erzeugen. Wahrnehmungsfehler und Fehlinterpretationen in Dialogen, die auf eine glaubwürdige Weise im biographischen Background und der Persönlichkeit einer Figur wurzeln, sind dagegen ein nahezu unerschöpflicher Quell an Möglichkeiten, Figuren konflikthaft aneinander geraten zu lassen.

 

Aufgabe: Denken Sie sich eine Figur aus, die auf eine bestimmte Weise zu einseitigen Empfangsgewohnheiten in Gesprächen neigt. Überlegen Sie anschließend, was für biographische Erfahrungen diese Figur dazu gebracht haben könnten, diese einseitigen Fehlwahrnehmungen auszubilden.

 

Ziel: Jede Romanfigur folgt in ihrem Gesprächsverhalten bestimmten kommunikativen Mustern, die in ihren biographischen Erlebnissen gründen. Über solche Muster eine größere Bewusstheit zu erlangen und sie sinnhaft in der Psychologie der jeweiligen Figur zu verorten, ist das Ziel dieser Übung.

Susanne Gavénis

Susanne Gavénis

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