Jeder wird wahrscheinlich irgendwann einmal die Erfahrung gemacht haben, dass ein anderer Mensch ihn einfach nicht versteht, und dass es zu Streit und Konflikten kommt, obwohl man doch selbst die allerbesten Absichten hatte und sich keinerlei Schuld bewusst ist (was der Gesprächspartner natürlich völlig anders sieht). Die Frage, warum solche konflikthaften Situationen oft wie aus dem Nichts zu entstehen scheinen und manchmal innerhalb von Sekunden eine Schärfe und Dramatik annehmen können, mit der keiner der Beteiligten gerechnet hätte, habe ich in dem Artikel über Körpersprache und widersprüchliche Botschaften schon einmal kurz angerissen.
Sowohl bei dem körpersprachlichen Verhalten, das ein Mensch (oder eine Romanfigur) zeigt, als auch bei den einander widersprechenden Botschaften und Signalen, die er seinem Gesprächspartner senden kann, spielt die Deutung dieses Verhaltens und der Signale eine entscheidende Rolle. Was geht beispielsweise in einem Menschen vor, der auf eine Gesprächsäußerung von mir plötzlich seine Arme verschränkt, sich abrupt auf seinem Stuhl zurücklehnt und seine Lippen aufeinander presst? Habe ich ihn durch das, was ich gerade gesagt habe, verärgert, oder hat ihn lediglich sein Magengeschwür gezwickt, weil er am Morgen etwas Falsches gegessen hat? So unsicher eine solche Situation für den Gesprächspartner ist, da er sich notgedrungen innerhalb weniger Augenblicke für irgendeine Deutung entscheiden und dieser Deutung entsprechend handeln muss, so viele Möglichkeiten bietet sie für Autoren, ihre Figuren in Konflikte hineingeraten zu lassen, die durch die simple Tatsache einer Fehlinterpretation gehörter Worte oder wahrgenommenen Verhaltens hervorgerufen wurden.
Was für verschiedene Facetten von möglichen Fehlinterpretationen es hierbei geben kann, zeigt auf eine eindrückliche Weise das Kommunikationsmodell der vierseitigen Nachricht, das der Kommunikationsforscher Friedemann Schulz von Thun entwickelt hat und das auch für den Umgang eines Autors mit seinen Romanfiguren ausgesprochen nützlich sein kann, wenn es darum geht, die tieferen Motivations- und Konfliktebenen in einem Dialog zwischen seinen Figuren im Blick zu behalten. Nach diesem Modell sind in allem, was ein Mensch sagt oder tut (also sowohl in seinen gesprochenen Worten als auch in seiner Körpersprache) stets vier verschiedene Botschaften enthalten, die alle gleichzeitig an den Gesprächspartner gesendet werden – ob man das nun will oder nicht oder ob es einem bewusst ist oder völlig unbewusst bleibt – und die der Gesprächspartner interpretieren muss.
Zum einen zeige ich meinem Gegenüber mit jeder meiner Äußerungen, was gerade in mir vorgeht, was für Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse ich in diesem konkreten Moment habe. Das ist die Ebene des Selbstausdrucks. Dieser Selbstausdruck kann von einem Menschen bewusst eingesetzt werden, um eine bestimmte Wirkung beim anderen zu erzielen, oder er kann völlig unabsichtlich und unbewusst sein. Ein Mann, der in Cowboy-Stiefeln und eng sitzendem T-Shirt, durch das man seine Fitnessstudio-gestählten Bizeps bewundern kann, eine Kneipe betritt, möchte vielleicht ganz bewusst über sich selbst zum Ausdruck bringen: „Ich bin ein cooler Typ!“ So etwas wäre bei Romanfiguren (bei realen Menschen natürlich auch) ein sogenanntes sprechendes Detail, weil es – ohne dass der Autor irgendeine auktoriale Erklärung dazu abgeben müsste – etwas Bestimmtes über eine Figur aussagt. Und je mehr solcher sprechenden Details in die gleiche Richtung weisen, desto klarer wird der emotionale Eindruck sein, den der Leser von dieser Figur hat. Ein sprechendes Detail wäre es ebenso, wenn der Selbstausdruck der Figur ihr selbst unbewusst wäre, etwa wenn sie glaubt, ihr Alkohol-Problem vor der Welt verborgen zu haben, während alle Kollegen im Büro schon Witze über die Weinfahne reißen, die ihnen jeden Morgen von dieser Figur entgegenweht.
Die zweite Botschaft, die jeder Mensch und jede Romanfigur bei jeder Äußerung automatisch mitsendet, betrifft die Ebene des Appells. Alles, was ein Mensch tut oder sagt, geschieht mit einer bestimmten Absicht und soll seinen Gesprächspartner in einer bestimmten Weise beeinflussen. Wenn ich weine, möchte ich vielleicht, dass die anderen Mitleid mit mir haben und mich trösten (und auch, wenn ich diese Absicht nicht habe, spürt mein Gegenüber in der Regel durchaus einen Appell, in irgendeiner Form auf meine Tränen zu reagieren), wenn ich meinen Arbeitskollegen in allen Einzelheiten von meinem grandiosen Sommerurlaub erzähle, will ich möglicherweise, dass sie neidisch auf mich sind.
Die dritte Ebene, die bei jeder meiner Äußerungen stets mit im Spiel ist, ist die Beziehungsseite meiner Nachricht. Mit allem, was ich tue oder sage, sage ich gleichzeitig auch etwas über die Art der Beziehung, die ich glaube, mit einem anderen Menschen zu haben, oder die ich mit meinem Verhalten herstellen will. Ein Mann, der einer wildfremden Frau auf der Straße innerhalb von fünf Minuten seine traumatischsten Kindheitserlebnisse erzählt und sie danach noch zum Einkaufen und zum Frisör begleitet, obwohl ihr das zunehmend unangenehmer wird, zeigt damit, wie er die Beziehung zu dieser Frau sieht. Auch ein Mensch, der seelenruhig in seinem Sessel sitzt und Zeitung liest, während sein Ehepartner bereits seit zwei Stunden im Schweiße seines Angesichts die Wohnung putzt, sendet mit einem solchen Verhalten – neben allem, was er sonst auch tut oder sagen mag – eine klare Botschaft auf der Beziehungsebene. Auch dies wären sprechende Details, die auf eine indirekte Weise – ohne dass es offen ausgesprochen werden müsste – etwas über eine Figur und ihr Verhältnis zu anderen Figuren aussagen würden.
Die vierte Ebene, auf der jeder Mensch bei jeder Äußerung eine Botschaft an den Gesprächspartner mitsendet, ist die Sachseite seiner Nachricht, also ganz schlicht das Thema, über das er gerade kommuniziert. Wenn Missverständnisse und Fehlinterpretationen diese Ebene betreffen, sind die daraus entstehenden Konflikte oft weniger dramatisch, allein aufgrund der Tatsache, dass sich alle Menschen über die elementaren Rahmenbedingungen der gegenwärtigen Situation in der Regel einig sind. Auf die Äußerung: „Uff, ist das heiß heute!“ mag der eine zustimmend nicken, während der andere entgegnet: „Ach, so schlimm finde ich es gar nicht!“, aber trotzdem wissen alle, dass es Sommer ist und das Thermometer immer höher steigt. Heftige Konflikte, die sich dennoch durch Fehlwahrnehmungen auf der Sachebene entzünden, können schnell in den Bereich massiver psychischer Störungen und Psychosen hineinreichen – wobei natürlich in einem solchen Fall die anderen drei Ebenen, vor allem die des Selbstausdrucks, besondere Bedeutung gewinnen, etwa wenn alle in Badeanzug und Badehose ins nächste Freibad pilgern, weil man auf dem Asphalt bereits Spiegeleier braten kann, während sich der kleine Horst-Detlef stattdessen in fünf Lagen Rollkragenpullover hüllt, sich seine Pudelmütze und Handschuhe überstülpt und seinen Schlitten aus der Garage holt.
Das Wichtige an diesen vier verschiedenen Seiten einer Nachricht ist nun, dass sie – da sie stets gleichzeitig mit jeder Nachricht sozusagen als Gesamtpaket mitgeschickt werden – vom Gesprächspartner interpretiert werden müssen, und das bedeutet, dass es sowohl auf der Sachseite einer Nachricht als auch auf der Selbstausdrucks-, Beziehungs- und Appellseite zu falschen Deutungen kommen kann, die zu heftigen Konflikten zwischen Menschen (und Romanfiguren) führen können. Selbst Äußerungen, die völlig eindeutig und positiv zu sein scheinen, können auf jeder dieser vier Ebenen vom Gesprächspartner missinterpretiert werden, etwa wenn eine Person zu einer anderen sagt: „Du siehst aber heute gut aus!“, woraufhin sich ihr Gesprächspartner brüsk abwendet, weil er statt des Kompliments (was es eigentlich sein sollte) vom anderen die Botschaft gehört hat: „Ich verachte dich, weil du dein Leben nicht auf die Reihe kriegst und völlig ungepflegt durch die Gegend läufst, und will dich deshalb mit einem geheuchelten Kompliment verhöhnen.“ Hier wäre es auf allen vier Ebenen der geäußerten Nachricht zu falschen Deutungen auf Seiten des Gesprächspartners gekommen, und jede dieser falschen Deutungen auf jeder Ebene hätte allein bereits ausgereicht, um einen Konflikt hervorzurufen.
Aufgabe: Schreiben Sie einen Dialog zwischen zwei Figuren, bei dem es auf möglichst vielen Ebenen der zwischen den Figuren gesendeten Nachrichten zu falschen Interpretationen kommt. Überlegen Sie sich dazu vorher jeweils für den Sender (also diejenige Figur, die gerade spricht oder sich in irgendeiner Form verhält), was er bei seiner allerersten Äußerung auf der Selbstausdrucksebene, der Beziehungsebene, der Appellebene und der Sachebene denkt und empfindet, und tun Sie dann dasselbe auf der Seite des Empfängers (also des Gesprächspartners, der das Gesagte oder das Verhalten der ersten Figur wahrnimmt und darauf reagiert). Schreiben Sie anschließend den Dialog zwischen den Figuren, bei dem sich das in den beiden ersten Sätzen entstandene Missverständnis als thematischer roter Faden durch das verbale und körpersprachliche Verhalten von beiden Gesprächspartnern zieht.
Ziel: Gerade bei konflikthaften Situationen und Dialogen zwischen Figuren ist es wichtig, sich als Autor bewusst zu sein, dass solche Konflikte nicht aus dem Nichts heraus entstehen und eskalieren, sondern Gründe haben, die im Denken und Fühlen der Figuren liegen und zu spezifischen Fehlwahrnehmungen und –interpretationen führen, die sowohl die verbalen Äußerungen als auch das Verhalten beeinflussen. Diese Übung soll dabei helfen, die sinnhafte Struktur und Dynamik von Konflikten in Dialogen klarer im Blick zu behalten, um zu verhindern, dass sich der Konflikt von der konkreten Psychologie der handelnden Figuren ablöst und zum (unplausiblen) Selbstzweck wird.