Nicht nur im Hinblick auf solche Dinge wie die Existenz einer Anderswelt und ihrer Bewohner oder der heftigen Reaktion meiner Hauptfigur Andion auf Eisen habe ich mich eng an die klassischen Geschichten über die Elfen angelehnt. Auch der desolate emotionale und psychische Zustand, in dem sich die Elfen im „Wächter des Elfenhains“ befinden, als Andion die Grenze zwischen den Welten passiert und zum ersten Mal die Anderswelt betritt, findet seine Entsprechung in den irischen und walisischen Feensagen und markiert dort – ebenso wie in meinem Roman – den Endpunkt einer Entwicklung, die sich über mehrere Jahrhunderte erstreckt.
In den Anfängen des irischen Feenglaubens zeigen sich die Elfen noch ganz als die stolzen und verehrungswürdigen Lichtgestalten, als die sie letztlich auch Eingang in solche Geschichten wie den „Herrn der Ringe“ und andere Publikationen gefunden haben, und mehr als alles andere ist es dieses Elfenbild, das die Vorstellung der Fantasyleser in der heutigen Zeit geprägt hat. Es sind Elfen, die oft noch Seite an Seite mit ihren menschlichen Verbündeten gegen die Feinde irdischer Könige oder verschlagene Intriganten aus den Reihen der Elfen selbst gestritten haben, und die irischen, schottischen und walisischen Sagen sind voll von heroischen Bündnissen zwischen mächtigen Elfenprinzen und Königen aus der Menschenwelt.
Auch Vermählungen zwischen diesen Elfenprinzen und sterblichen Prinzessinnen aus den irischen Königs- und Adelsfamilien waren durchaus nichts Ungewöhnliches, und die Grenzen zwischen der Anderswelt der Elfen und der Menschenwelt waren offener und fließender, als sie es zu späteren Zeiten sein sollten. Die Elfen bewegten sich frei unter den Sterblichen, und auch Besuche der Menschen in der Anderswelt waren keine Seltenheit. Doch je mehr die Menschen begannen, das Land zu bebauen und in die Natur um sie herum einzugreifen, desto mehr veränderte sich das Bild, das sie von den Elfen hatten, und angstbesetzte, bedrohlichere Aspekte, die zuvor nur eine kleine und untergeordnete Rolle im Volksglauben gespielt hatten, gewannen mehr und mehr die Oberhand.
Zwar gab es schon zu Beginn der Überlieferungen Elfen, die weniger Interesse daran hatten, den Menschen in ihrem harten Los zur Seite zu stehen, sondern ihr Vergnügen mehr darin fanden, allerlei Schabernack mit ihnen zu treiben (dies betrifft vor allem diejenigen Elfen, die als Naturgeister als Teil der Elemente betrachtet wurden und eher von launenhafterer und unberechenbarerer Wesensart waren, weniger die Elfenaristokratie in ihren Schlössern und magischen Reichen), doch ganz allmählich und über einen Zeitraum, der Jahrhunderte umfasste, rückte das Trennende, weder mit Freundlichkeit noch mit guten Absichten Überbrückbare zwischen den Menschen und den Elfen in den Vordergrund. Plötzlich gab es Gefahren, an die zuvor niemand einen Gedanken verschwendet hätte.
Nun kam es vor, dass arglose Wanderer des Nachts durch Lachen und Gesang in einen Feenhügel gelockt wurden, und wenn sie am nächsten Morgen fröhlich und weinselig ihren Weg fortsetzen wollten, feststellen mussten, dass die wenigen Stunden, die sie im Reich der Elfen verbracht hatten, in der Menschenwelt in Jahrhunderten gemessen worden und alle ihre Lieben schon längst zu Staub zerfallen waren (ein Schicksal, das in mehr als einer volkstümlichen Überlieferung gemeinerweise auch dem Wanderer selbst zuteil wurde, nachdem er schreckensstarr am Grab seines Eheweibes getrauert hatte). Dies ist im Übrigen ein Aspekt irischer Sagen, den ich im „Wächter des Elfenhains“ ignoriert habe, da ein solcher fieser Zeiteffekt die Geschichte gesprengt hätte und für mich als Autorin nicht sinnvoll handhabbar gewesen wäre.
Nun wurden auf einmal Säuglinge des Nachts aus ihren Wiegen entführt und durch alte, boshafte Elfen ersetzt, die die Gestalt des geraubten Kindes annahmen, während der Säugling selbst den in der Anderswelt dahinsiechenden Elfen als lebenskraftspendende Nahrung diente. Gerade die volkstümlichen Erzählungen von elfischem Kindesraub und Wechselbälgern markieren den unübersehbaren Niedergang der Elfen in der Phantasie der Menschen, und wie so oft, wenn Aberglaube oder religiöser Fanatismus im Spiel sind, entwickelten sich auch aus dieser abergläubischen Furcht bizarre Praktiken, die dazu dienen sollten, den Menschen und seinen Lebensraum vor dem böswilligen Eindringen von Wesen aus der Anderswelt zu schützen.
So wurde der angeblich durch einen Wechselbalg ersetzte Säugling beispielsweise auf eine Schaufel gesetzt und über ein Feuer gehalten. Durch die Schmerzen sollte das Feenwesen gezwungen werden, seine wahre Gestalt anzunehmen und das echte Kind wieder herauszurücken. Auch nicht unüblich war es, den Säugling auf einen Misthaufen zu setzen und dort über Stunden allein zu lassen, um den Wechselbalg durch die schlichte Kraft des Gestanks zu vertreiben, oder das Kind in einen Schneehaufen zu werfen. All dies zeigt deutlich den Wandel, den die Vorstellung von den Elfen und der Anderswelt in den Köpfen der Menschen im Lauf der Jahrhunderte vollzogen hat.
Vielleicht konnte es auch gar nicht anders sein. Möglicherweise hat allein das zunehmende Bevölkerungswachstum mit seinem damit einhergehenden größeren Bedürfnis, den eigenen Besitz gegen Übergriffe von außen zu schützen, einen schleichenden Bedeutungswandel im Verständnis der Natur und der darin lebenden (auch magischen) Wesen herbeigeführt. Das Verlangen der Menschen, immer neue und stärkere Grenzen zu ziehen, hat schließlich auch die Anderswelt zuerst in die Unsichtbarkeit und am Ende vollends in die Nichtexistenz gedrängt.
In manchen volkstümlichen Überlieferungen zeigt sich dieses allmähliche Hineindrängen in die Nichtexistenz auf eindrucksvolle Weise darin, dass die einstmals stolzen Elfen, die des Nachts auf ihren weißen Rössern prunkvolle Prozessionen durch die Wälder und Felder Irlands abhielten, von Jahrhundert zu Jahrhundert geschrumpft sind, bis sie irgendwann so klein geworden waren, dass sie nicht mehr auf Pferden, sondern auf Grashüpfern ritten und statt schimmernden goldenen Rüstungen nur noch Rüstungen aus schäbigen Fischschuppen trugen. Und irgendwann waren die heroischen Elfenfürsten der alten Tage dann ganz verschwunden. Da ist es fast ein wenig tröstlich, dass sich die Elfen in der heutigen Fantasy einen festen Platz erobert haben und sich, so steht zu erwarten, von diesem Platz so schnell auch nicht mehr vertreiben lassen. Als Leserin und Autorin freut mich das ungemein. Und wer weiß – vielleicht sehe ich schon morgen eine Prozession menschengroßer, güldener Elfen vor meinem Wohnzimmerfenster vorbeiflanieren. Ich glaube, das würde nicht nur mir gefallen.