So unterschiedlich die Vorlieben und Abneigungen der heutigen Fantasy-Liebhaber auch sind, in einem Punkt sind sich (fast) alle einig: Drachen sind cool! Sie sind sogar so cool, dass vermutlich viele Kinder, nach ihren entsprechenden Wünschen gefragt, lieber einmal auf einem Drachen als auf einem Pony reiten würden. Das ist auch kein Wunder, denn sowohl in der Literatur als auch in der Film- und Fernsehlandschaft haben sich die zumeist jugendlichen Helden, die sich auf dem Rücken ihrer Drachen furchtlos ins nächste Abenteuer stürzen, bereits seit geraumer Zeit einen festen Platz erobert, von dem sie sich sehr wahrscheinlich auch in der Zukunft nicht vertreiben lassen werden. Die Drachen sind, wie es scheint, endgültig zum neuen besten Freund des Menschen avanciert, eine Rolle, die in früheren Fernsehzeiten so süße Tierchen wie Lassie, die heldenhaft kläffende Collie-Hündin, oder Flipper, der aufdringlich schnatternde Delfin, für sich in Anspruch nehmen durften. Doch heutzutage, wo bereits jeder Grundschüler weiß, dass man nur mutig die Hand auszustrecken braucht, um einen Drachen zu zähmen, müssen die tierischen Begleiter der Hauptfiguren in den Büchern, Filmen und Fernsehserien mindestens mit Mach 12 durch die Wolken sausen und mit ihrem Atem den Asphalt zum Schmelzen bringen können, um als ernstzunehmender Gehilfe und Sidekick des Helden in die engere Auswahl zu gelangen.

 

Das aber war nicht immer so. Schaut man sich das Auftreten der Drachen in den Mythologien und Legenden der verschiedenen Völker über die Jahrtausende hinweg an, so wird schnell klar, dass der mediale Kuschelkurs, der in der Beziehung zwischen Menschen und Drachen in der heutigen Zeit vorherrscht, etwas gänzlich Neues ist, auf das die Menschen in früheren Jahrhunderten vermutlich mit ungläubigem Staunen oder sogar einem entschieden missbilligenden Stirnrunzeln reagiert hätten. Denn unabhängig davon, dass die Bedeutung der Drachen im Abendland und im asiatischen Raum von jeher vollkommen unterschiedlich wahrgenommen wurde, waren die Drachen doch eines nie: ein guter Freund und Kumpel, der nachts friedlich auf dem Bettvorleger des Helden schlummert und es anscheinend gar nicht erwarten kann, am nächsten Morgen von diesem wie ein gewöhnlicher Ackergaul angeschirrt zu werden, um gemeinsam ein wenig durch die Gegend zu flattern. Die grimmigen Drachen des europäischen Mittelalters, die nichts lieber taten, als sich wohlig auf ihrem angehäuften Gold und ihren Juwelen zu räkeln und ab und zu eine dralle Jungfrau zu verspeisen, hätten vermutlich nur einmal kurz gelacht, bevor sie den Helden mit einem gelangweilten Happs in ihren Magen befördert hätten, und die Bewohner Chinas, Japans oder Indiens wären sehr wahrscheinlich niemals auf die Idee gekommen, die heiligen Drachen ihrer Mythologien und Legenden, die noch viel mehr als die europäischen eine reine Verkörperung elementarer Urgewalten darstellten, auf eine derart schändliche Weise herabzuwürdigen. Von Beginn an waren die Drachen eine Manifestation des Chaos, die – so wie im Westen – entweder energisch bekämpft und niedergerungen werden musste oder – so wie im Osten – als Ausdruck der Natur selbst angebetet und verehrt wurde. Gerade im asiatischen Raum waren die Drachen oft nicht weniger als Götter oder zumindest Halbgötter, die als unumschränkte Könige in Flüssen oder in den Wolken lebten und mit ihrem Wohlwollen für Regen sorgten oder Überschwemmungen verhinderten, auf jeden Fall aber von den Menschen bei Laune gehalten werden mussten.

 

Das alles ist von Lassie und Flipper denkbar weit entfernt. Andererseits sollten wir es uns aber vielleicht nicht zu einfach mit unserem Urteil machen, immerhin gibt es Autoren, die selbst mediale Helden wie James Bond als fest in der altehrwürdigen Tradition der europäischen Drachentöter des Mittelalters verankert sehen und argumentieren, dass, auch wenn sich die Gestalt vieler heutiger Drachen geändert haben mag und sie heutzutage weniger feuerspeiend und Jungfrauen raubend durch die Gegend ziehen als in Form von größenwahnsinnigen Schurken nach der Weltherrschaft greifen, ihre symbolische Bedeutung noch immer dieselbe ist wie vor tausend Jahren. Nach wie vor geht es um den heroischen Kampf des Menschen gegen Unordnung und Chaos, um den Schutz einer menschlichen Welt, die den zerstörerischen Kräften der Natur unter beispiellosen körperlichen und geistigen Anstrengungen abgetrotzt wurde und immer wieder aufs Neue gegen den Ansturm ihrer Heerscharen verteidigt werden muss. In diesem Sinne erscheint James Bond tatsächlich wie eine in einen makellosen Anzug gesteckte und Martinis schlürfende Inkarnation eines mittelalterlichen Drachentöters, und Dauerbösewicht Blofeld als die des Drachen, der die menschliche Gesellschaft bedroht, weil sie eine Ordnung verkörpert, die ihm aufgrund seines Wesens auf ewig fremd bleiben muss.

 

Auch die beinahe inflationäre Anzahl drachenreitender Protagonisten in der heutigen (westlichen) Medienlandschaft könnte, in diesem Licht betrachtet, durchaus als ein Ausdruck derselben Traditionslinie aufgefasst werden. Ob der beste Freund des Helden nun ein treuherzig blickender Golden Retriever oder ein feuerspeiender Drache ist, ist eigentlich einerlei, denn das Chaos und die Gefahren einer dem Menschen feindlich gesinnten Natur wurden in beiden Fällen auf eine äußerst effektive Weise eliminiert – im Fall des Golden Retrievers durch eine lange und geduldige Züchtung, die aus dem einstigen wilden und gar nicht kuscheligen Wolf ein süßes Wuffilein gemacht hat, im Fall des Drachen durch die Verwandlung einer einstmals kosmischen Elementarkraft in ein besseres Haustier, auf dem man sogar noch reiten bzw. fliegen kann. Allein die schlichte Tatsache des Reitens zeigt ja bereits, dass von einem irgendwie gearteten Zerstörungswillen nicht mehr wirklich die Rede sein kann und von einer Bedrohung der menschlichen Ordnung weit und breit keine Spur mehr zu sehen ist. Im Gegenteil sind viele der heutigen Drachen mittlerweile sogar zu aktiven Protagonisten ebenjener Ordnung geworden, die sie zu früheren Zeiten so vehement bekämpft haben, indem sie in inniger und empathischer Zusammenarbeit mit ihren Reitern dafür Sorge tragen, dass weder Naturkatastrophen noch menschliche oder übernatürliche Finsterlinge das Leben der Menschen in Gefahr bringen können.

 

Eine ähnliche Wandlung haben, nebenbei bemerkt, auch die Vampire durchgemacht, die sich vor ein paar hundert Jahren vermutlich nicht hätten träumen lassen, dass sie einmal mit buntem Glitter bestäubt nach dem Herz eines heillos überforderten Teenager-Mädels schmachten oder in der „Schule der kleinen Vampire“ von ihren Lehrern zum Nachsitzen verdonnert werden würden. Doch die Zeiten haben sich geändert, und mit ihnen auch die Möglichkeiten, seinen Ängsten in einer Welt voller Unsicherheiten und Gefahren die Stirn zu bieten. In ihren Märchen, Mythen und Geschichten haben die Menschen schon immer auf eine kreative Weise nach solchen Möglichkeiten gesucht. In diesem Sinne ist jede dieser Geschichten, gleichgültig, ob es sich dabei um einen Roman, einen Film oder die Folge einer Fernsehserie handelt, wie ein Blick in den Spiegel, der uns zeigt, welche Ausdrucksformen für dieses Grundbedürfnis wir in unserer eigenen Gesellschaft gefunden haben. Was wir entdecken, mag uns widersprüchlich und verwirrend erscheinen, verrät uns aber viel über uns selbst. Dass es neben den modernen „Drachentötern“ wie James Bond auch noch solche dynamischen Duos wie Hicks, den mutigen Wikingerjungen, und seinen Drachen Ohnezahn (!) gibt, die entschieden weniger aufs Töten als auf Empathie und Zusammenarbeit setzen, sollte uns daher eigentlich optimistisch stimmen.

29.07.2023 um 11:11 von Susanne Gavénis
Kategorie: Der Zorn des Purpurdrachen, Ideen im Dialog
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